Barfuß ganzen Fluss umrundet! (Hobby? Barfuß! 2)
Gestern war ich wieder einmal barfuß im Supermarkt und fühlte mich schon viel sicherer als beim ersten mal.
Heute nach Feierabend verspürte ich angesichts des idealen Wetters den Drang, meinen Barfuß-Horizont zu erweitern. Schon meine Vorfreude darauf vertrieb meine körperliche Erschöpfung nach der Arbeit nahezu vollkommen.
Zunächst wollte ich mit der S-Bahn in die City fahren um dann zu Fuß wieder zurückzuwandern. In irgendeinem älteren Posting hat ein Mädchen das Gefühl, wenn ich mich richtig erinnere, so beschrieben: "Der Zug fährt ein, die Türen schließen sich hinter dir und du weißt, jetzt gibt es kein Zurück mehr. Ab hier bist du unwiderruflich barfuß" (oder so ähnlich). Na, diese Erfahrung wollte auch ich nicht missen. Es kam noch der Gedanke an den Geruch der Holzschwellen nach frischem Teer hinzu, der bei mir schon als Kind das Fernweh geweckt hat. Der Geruch des Abenteuers also.
Dann entschied ich mich jedoch umgekehrt und spazierte von Steinhausen zunächst durch Haidhausen. An der Ecke Wörthstraße/Preysingstraße nahte ein Zug der Linie 15. Damit mich mein Kollege nicht sehe, verbarg ich mich vorsichtshalber hinter einer Litfaßsäule.
Was die Kollegen anbelangt, habe ich nämlich noch große Scheu, mich zu "outen". Einer erzählt’s dem anderen, im Stationshaus brodelt sowieso die Gerüchteküche und ich stelle mir beispielsweise meinen Landsmann und Kollegen Peter Geyer vor wie er zu mir sagt: "Ja Schorschi, i hab g’hört, du gehst in der Stadt barfuß, du g’hörst ja nach Haar!" (Haar ist in München das was in Wien Steinhof ist, eh klar?). Oder noch viel schlimmer, es spricht mich keiner darauf an und sie reden bloß hinter meinem Rücken. Aber vielleicht sind das nur Hirngespinste. Wahrscheinlich sogar, denn selbst als ich meinen qualifizierteren alten Beruf aufgab um meinen Kindheitstraum Straßenbahnfahrer zu erfüllen (ein Entschluss, den ich bis heute nicht bereut habe) hat mich entgegen meinen Befürchtungen letztendlich niemand für verrückt erklärt. Aber soweit, dass ich mich jedem gegenüber barfuß zeige, bin ich halt noch nicht.
Also, ich wandere durch Haidhausen. Als ich auf meinen linke Sohle blicke, oh Schreck: Blut? Meine letzte Tetanusimpfung war vor 16 Jahren! Doch das Rote auf der Sohle ist bloß irgendein Obstrest. Ich komme zum Gasteig. Schon seit ein paar hundert Metern verspüre ich einen bestimmten Drang. Ich suche die Toilette im Erdgeschoß des Kulturzentrums auf. Sehr zu empfehlen, sehr sauber. Als ich wieder hinausgehe, meine ich einen argwöhnischen Blick der Pförtnerin zu ernten. Sie sagt aber nichts. Draußen steht ein Security-Mann. Er spricht ins Funkgerät: "Drei an Fünf!" Jetzt kommt wahrscheinlich die Meldung "an mir geht gerade ein verdächtiger barfüßiger Mann vorbei!", denke ich. Aber falsch gedacht: Nichts dergleichen kommt. Ein entbehrlicher Anfall von Paranoia meinerseits.
Weiter durch die Au von der Hochstraße über die Grünanlage am Isarhochufer zur Lilienstraße. In der Grünanlage sehr rauher Asphalt. Aber körperlich habe ich überhaupt keine Schwierigkeiten. Ich könnte noch 20 Kilometer laufen.
Durch den Hof des Deutschen Museums hindurch, dann über die Isar. Fußgängerampel. Im Lichtkegel der Scheinwerfer der wartenden Autos erstrahlen meine nackten Beine und Füße. Da komme ich mir schon sehr ausgesetzt vor.
An der Kreuzung Rumfordstraße/Klenzestraße spüre ich klebriges Zeug. Anscheinend sondern die Bäume dort irgendein Sekret ab. Dann hinten am Isartor vorbei ins Tal. Ab hier Menschenmassen. Anfangs habe ich noch die abwehrende "Brust raus, Bauch rein"-Haltung, als ob ich mich rechtfertigen müsste. Doch je weiter ich gehe, desto lockerer werde ich. Langsam fangen meine Arme wieder zu pendeln an. Nach kurzer Zeit ist der Marienplatz erreicht. Wieder ein Drang. Hinter einem Busch verschwinden kann ich nicht, also muss ich aufs öffentliche WC in der U-Bahn-Passage. Zum ersten und letzten Mal. Dringend abzuraten. Mit meiner ersten barfüßigen Rolltreppenfahrt wieder nach oben. Die Rolltreppe fühlt sich ein bisschen anders an, als ich erwartet habe. Gerade (es dürfte 21.00 Uhr sein) ertönt das Glockenspiel. Es klingt wie üblich so falsch, dass mir der Satz: "Da zieht's dir die Schuhe aus" einfällt. Gerade das geht aber bei mir heute gar nicht.
Weiter über die Neuhauser und Kaufingerstraße. Trotz der noch angenehm warmen Steinplatten bin ich weit und breit der einzige Barfüßige. Evi dürfte doch recht haben, was München betrifft. Der erste Kommentar, den ich heute zu hören bekomme, ist der eines etwa dreizehnjährigen Knaben zu seinen Eltern: "Schau, der läuft barfuß!". Aber allmählich fange ich an, jeweils für ein paar Augenblicke selber zu vergessen, dass ich barfuß bin. Ein gutes Zeichen, denn anscheinend gewöhne ich mich daran. In diesen Augenblicken verschwinden auch die Gedanken daran, was wohl die Leute denken, wenn sie mich sehen. Nach kurzer Zeit ist der Stachus erreicht.
(So, bitte nicht wegen dem was jetzt kommt das Posting löschen, denn auch das gehört dazu): Wieder zurück Richtung Marienplatz. Da, auf Höhe des C&A ein barfüßiges Mädchen! Etwa 20 Jahre alt, blond, sehr gepflegt aussehend. Das Hinterteil für meinen Geschmack ein bisschen zu ausladend, aber im wesentlichen o. k. Entsprechend meiner Gewohnheit drehe ich mich um und gehe ihr nach. Die Gute rennt ordentlich schnell im Vergleich zu meinem gemächlichen Spazierschritt. Komischerweise ist aber vermutlich dadurch, das ich selber barfuß bin, der übliche starke erotische Reiz nicht gegeben. Lorenz hat vermutlich recht, dass meine Vorliebe eine Projektion meines bis vor ein paar Wochen noch unterdrückten Wunsches, selbst barfuß zu laufen, ist. Unter dem Karlstor bleibt das Mädchen kurz stehen, da ein Typ es um Geld anschnorrt. Bereitwillig zückt sie ihre Börse. Dann umrundet sie den Brunnen am Stachus, während ich durch den Brunnen hindurchlatsche. Am Rand kommt mir das Wasser so schlammig vor, dass ich meine, meine Füße müssten jetzt noch schmutziger sein als zuvor. Dann verschwindet das Mädchen rechts abbiegend Richtung Lenbachplatz. Halbherzig gehe ich noch ein Stück in die gleiche Richtung, dann reißt die Sichtverbindung ab.
Tja, vielleicht ist dieses Mädchen ja zufälligerweise eine Teilnehmerin dieses Forums. Dann kannst Du Dir denken: "So, Georg der Straßenbahner hat mich verfolgt, findet mein Hinterteil etwas zu ausladend aber ansonsten o. k." Bitte verzeih mir.
Auf dem Weg Richtung Lenbachplatz, o Schreck: Im Augenwinkel sehe ich ein blaues Hemd und eine graue Hose. Und tatsächlich: Keine drei Meter rechts von mir steht einer meiner Kollegen und ist in die Schaufenster vertieft. Gerade von diesem Kollegen hätte ich zwar vermutlich nichts zu befürchten: Er ist bekennender Schwuler und trägt am Christopher-Street-Day das Regenbogenabzeichen zur Trambahneruniform. Dieser recht urige Typ ist sicher auch tolerant gegenüber anderen Minderheiten wie Barfüßern. Trotzdem ziehe ich es vor, vorüber zu gehen ohne ihn zu grüßen. Er dürfte mich nicht bemerkt haben.
Zum zweiten mal zurück zum Marienplatz. So, jetzt habe ich mir eine Zigarette verdient, welche ich an der Mauer eines der U-Bahn-Abgänge lehnend rauche. Da der zweite und letzte Kommentar des Tages: Drei Jugendliche, ein Bursch und zwei Mädchen, gehen hinter mir vorbei, ein Mädchen bückt sich, deutet aus dieser Position annähernd waagrecht auf meine Füße und gibt einen belustigt prustenden Laut von sich. Dann verschwinden die drei in der Passage. Ich trag’s mit Gelassenheit.
Dann hinunter zur S-Bahn, die S5 steht schon da, schnell hinein, bevor es "Ebersberg zurückbleiben" heißt. Keine Zeit, den Teergeruch zu atmen. Drinnen ist es ziemlich voll, sodass keiner nach unten blickt und ich nicht weiter auffalle. Nur ein sehr hübsches blondes Mädchen auf einem Sitzplatz lugt neugierig-freundlich herüber. Insgeheim wünsche ich mir, dass ihr meine Füße gefallen. Beim Isartor steigt ein ganzer Pulk von Leuten aus, auch das Mädchen. Ich presse mich an die Zwischenwand bei der Türe, damit mir niemand auf die Füße steigt. Dann setze ich mich, diagonal gegenüber einer jungen Frau, die zumindest scheinbar in ein Buch vertieft ist. So ganz wohl fühle ich mich barfuß in nächster Nähe zu einem anderen Menschen an einem öffentlichen Ort noch nicht. Mein Atem stockt, das Zwerchfell hebt sich nur sporadisch. Verlegen blicke ich nach oben und lese "Sie fahren heute mit Wagen 0083". So wird mir ewig in Erinnerung bleiben in welchem Wagen ich zu ersten mal in meinem Leben barfuß war. Dann die Haltestelle Leuchtenbergring, über die kühlen Klinkerplatten der hässlichen Leuchtenbergunterführung heimwärts, wo mich meine Katze Siri freudig begrüßt.
Und nachdem ich die Isar zu Fuß überquert, mit der S-Bahn jedoch unterquert habe, habe ich heute barfuß einen ganzen Fluss umrundet.
Grüße an die Füße
Georg, der Straßenbahner