Barfuß-Literatur (Hobby? Barfuß! 2)

Samuel @, Saturday, 02.06.2001, 23:21 (vor 8514 Tagen)

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Hallo zusammen!

kürzlich fiel mir ein Buch in die Hände, das sicher vielen von euch bekannt ist, aber die wenigsten dürften es GELESEN haben. Dazu handelt es sich um eine der sicherlich bekanntesten Barfüßerinnen und ich glaube nirgends wird schöner beschrieben, wie ein kleines Mädchen Spaß am Barfußlaufen findet. Und dann mußte ich feststellen, daß der Text in der Barfuß-Literaturecke fehlt!?

Also hier für alle, die wissen wollen, wie es wirklich war...

Johanna Spyri, Heidi, Ausgabe: Kreuztal-Westfalen 1948.

(Heidi wird mit fünf Jahren von ihrer Pflegemutter "Base Dete" auf die Alm gebracht. Und schließt sich für den Aufstieg dem Geißenpeter an, der seine Ziegen auf den Berg treibt, während die Base Dete mit einer anderen Frau hochsteigt und tratscht.)
Erst war das Kind mühsam nachgeklettert, in seiner schweren Rüstung vor Hitze und Unbequemlichkeit keuchend und alle Kräfte anstrengend. Es sagte kein Wort, blickte aber unverwand bald auf Peter, der mit seinen nackten Füßen und leichten Höschen ohne alle Mühe hin- und hersprang, bald auf die Geißen, die mit den dünnen, schlanken Beinchen noch leichter über Busch und Stein und steile Abhänge hinaufkletterten. Auf einmal setzte sich das Kind auf den Boden nieder, zog mit großer Schnelligkeit Schuhe und Strümpfe aus, stand wieder auf, zog sein rotes, dickes Halstuch weg, machte sein Röckchen auf, zog es schnell aus und hatte gleich noch eins auszuhäkeln, denn die Base Dete hatte ihm das Sonntagskleidchen über das Alltagszeug angezogen, um der Kürze willen, damit niemand es tragen müsse. Blitzschnell war auch das Alltagsröckchen weg, und nun stand das Kind im leichten Unterröckchen und streckte die bloßen Arme aus den kurzen Hemdärmelchen vergnügt in die Luft. Dann legte es schön alles auf ein Häufchen, und nun sprang und kletterte es hinter den Geißen und neben Peter her, so leicht wie nur eines aus der ganzen Gesellschaft.
Peter hatte nicht achtgegeben, was das Kind mache, als es zurückgeblieben war. Wie es nun in der neuen Bekleidung nachgesprungen kam, zog er lustig grinsend das ganze Gesicht auseinander und schaute zurück, und als er unten das Häuflein Kleider liegen sah, ging sein Gesicht noch ein wenig mehr auseinander, und sein Mund reichte fast von einem Ohr bis zum anderen; er sagte aber nichts. Wie nun das Kind sich so frei und leicht fühlte, fing es ein Gespräch mit Peter an, und er fing auch an zu reden und mußte auf vielerleih Fragen antworten, denn das Kind wollte wissen, wie viele Geißen er habe und wohin er mit ihnen gehe und was er dort tue, wo er hinkomme. So langten endlich beide samt den Geißen oben bei der Hütte an und kamen der Base Dete zu Gesicht.
Kaum aber hatte diese die herankletternde Gesellschaft erblickt, als sie laut aufschrie: "Heidi, was machst du? Wie siehst du aus? Wo hast du deinen Rock und den zweiten und das Halstuch? Und ganz neue Schuhe habe ich dir gekauft für den Berg und dir neue Strümpfe gemacht, und alles ist fort! alles fort! Heidi, was machst du, wo hast du alles?"
Das Kind zeigte ruhig den Berg hinunter und sagte: "Dort!" Die Base folgte seinem Finger. Richtig, dort lag etwas, und obenauf war ein roter Punkt, das mußte das Halstuch sein.
"Du Unglückstropf!" rief die Base in großer Aufregung; "was kommt dir denn in den Sinn, warum hast du alles ausgezogen? Was soll das heißen?"
"Ich brauch' es nicht," sagte das Kind und sah gar nicht reuevoll aus über seine Tat.
"Ach du unglückseliges, vernuftloses Heidi, hast du denn noch gar keine Begriffe?" jammerte und schalt die Base weiter...
(Die Base lässt das[!] Heidi nun bei dem Großvater auf der Alm, der verständlicherweise erst etwas Zeit braucht, um sich mit den neuen Umständen anzufreunden. Heidi besichtigt derweil das Äußere der Hütte)
...ging das Kind um die andere Ecke der Hütte herum und kam vorn wieder zum Großvater zurück. Als es diesen noch in derselben Stellung erblickte, wie es ihn verlassen hatte, stellte es sich vor ihn hin, legte die Hände auf den Rücken und betrachtete ihn. Der Großvater schaute auf. "Was willst du jetzt tun?" fragte er, als das Kind immer noch unbeweglich vor ihm stand.
"Ich will sehen, was du drinnen in der Hütte hast," sagte Heidi.
"So komm!" Und der Großvater stand auf und ging voran in die Hütte hinein.
"Nimm dein Bündel Kleider dort mit," befahl er im Hereintreten.
"Das brauch' ich nicht mehr," erklärte Heidi.
Der Alte kehrte sich um und schaute durchdringend auf das Kind, dessen schwarze Augen in Erwartung der Dinge, die da drinnen sein konnten, glühten. "Es kann ihm nicht an Verstand fehlen," sagte er halblaut. "Warum brauchst du's nicht mehr?" setzte er laut hinzu.
"Ich will am liebsten gehen wie die Geißen, die haben ganz leichte Beinchen."
"So, das kannst du, aber hol trotzdem das Zeug," befahl der Großvater, "es kommt in den Kasten." Heidi gehorchte. Jetzt machte der Alte die Tür auf, und Heidi trat hinter ihm her in einen ziemlich großen Raum ein vom Umfang der ganzen Hütte. Darin standen ein Tisch und ein Stuhl, in einer Ecke war des Großvaters Schlaflager, in einer anderen hing der große Kessel über dem Herd, und auf der anderen Seite war eine große Tür in der Wand. Die machte der Großvater auf, es war der Schrank. Da hingen seine Kleider drin, und auf einem Gestell lagen ein paar Hemden, Strümpfe und Tücher, und auf einem anderen standen einige Teller und Tassen und Gläser, und auf dem obersten lagen ein rundes Brot und geräuchertes Fleisch und Käse. In dem Kasten war alles enthalten, was der Alm-Öhi besaß und zu seinem Lebensunterhalt gebrauchte. Als er nun den Schrank aufgemacht hatte, kam Heidi schnell heran und stieß sein Zeug hinein, so weit hinter des Großvaters Kleider wie möglich, damit es nicht so leicht wiederzufinden sei...

Toll, daß Du bis zum Ende gelesen hast! Ich dachte, heute liest man keine so langen Texte mehr?
Samuel


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