Herbst-Depression (Hobby? Barfuß! 2)

Lotsi, Friday, 27.10.2000, 21:52 (vor 8796 Tagen)

Hi Ihr!

Und wieder hat mich ein wenig die Herbstdepression gepackt. Obwohl es noch einigermaßen warm ist, hat diese so gehasste Jahreszeit meine Stimmung voll in Beschlag genommen.
Die Tatsache, dass es nun mit dem Barfußlaufen fürs erste vorbei ist, ist dabei nur ein Faktor von mehreren. Ich mag Herbst und Winter einfach generell nicht.
Eigentlich wollte ich gerade zum Trotz eine Runde barfuß durch den Park rennen, um mich aufzuheitern, doch auf dem Weg dorthin kam ich an der ersten Weihnachtsdekoration vorbei, und das wars. Mit der Brechstange kann ich halt auch kein summer-feeling erzeugen.
Auch wenn, wie berichtet, meine barfuß-Spaziergänge im Herbst ihren eigenen Reiz hatten, eine tolle Erfahrung waren und ich sie wirklich genossen habe, so verzichte ich doch nicht nur um des Barfußlaufen willen auf Schuhe. Sicher, das beschriebene Gefühl von Freiheit und Ungezwungenheit (auch das nach wie vor aufregende Gefühl) genieße ich sehr, aber Barfußlaufen ist halt vor allem ein Genuss, der in Zusammenhang mit warmem Wetter steht. Barfuß ist und bleibt... Sommer!
Vor lauter Wehmut muss ich direkt zwei nostalgische Erinnerungen loswerden: Diesen Sommer fuhr ich mit dem Zug nach München. In Landshut stieg ein alter, gediegener Herr zu. Er setzte sich in mein Abteil und fragte beim Anblick meiner Füße - freundlich -, ob ich denn keine Schuhe dabei hätte. Ich verneinte. Dann erst mal das Übliche: "Was! So weit fahren sie, ganz ohne Schuhe! Usw." Und dann schließlich begann daher, "von früher" zu erzählen, er war nämlich pensionierter Studiendirektor und hatte an seiner Schule in München in den frühen 70ern einiges erlebt. Barfußlaufen, erzählte er, war einer der leichtesten Wege, um zu provozieren, und weil damals ein Bedürfnis nach Provokation bestand, haben es ziemlich viele gemacht.
Was ich also immer ein bisschen als übertriebens "Hippie-Klischee" angesehen habe - natürlich war Barfußlaufen damals voll angesagt, aber waren es wirklich so viele? - scheint zeitweise wirklich ein Massenphänomen gewesen zu sein. Naja, bei manchen 50jährigen kann ich mir kaum vorstellen, dass diese früher einfach so barfuß unterwegs waren. Aber vielleicht denken in 30 Jahren die Jungen auch so über mich...
Der Lehrer musste schon schmunzeln über soviel nonkonforme Begisterung in jenen Jahren. Am Anfang der 80er, sagte er, kam das Barfußlaufen erneut stark in Mode. Das war so die Alternativ/AntiAKW- Phase. Auf jeden Fall war der Herr sehr wohlwollend und sagte, er fände es gut, wenn junge Leute barfuß laufen, weil sie an erster Stelle einfach Lust darauf haben, und nicht, weil sie irgendwie unangepasst sein wollen. Das war ein nettes Gespräch!
Bei dieser Geschichte fällt mir eben die zweite ein, weil sie dazu passt: Im Sommer '98 war ich mit meiner Freundinn Connie in Berlin. Und weil wir so - etwas naive - Vorstellungen über echte, coole Alternativkultur in Berlin-Mitte im Kopf hatten, dachten wir, nicht aufzufallen, wenn wir barfuß herumlaufen. Denkste! Selbst ganz bunt bekleidete "Links-Szene-Sponti-Punk-Wasauchimmer-Fuzzis", halt so Leute, die sich so anziehen, wie man wonanders meint, dass "echte" Berliner Spontis so aussehen, glotzten uns ziemlich überrascht hinterher. Das hielt uns nicht davon ab, fleißig weiter barfuß zu laufen.
In dier Berliner "Szene" (so es sie gibt; jedenfalls kamen die meisten jungen Leute, die wir trafen, ursprünglich aus der Provinz, auch wenn sie es lange nicht zugaben) merkten wir, sind eher Docs und Stiefel angesagt, Barfüßer(innen) haben wir gar nicht so viele gesehen, wie wir dachten. Selbst da also ist man ohne Schuhe irgedwie "Freak".
Jetzt ist der Text schon wieder so lang geworden. Aber vor lauter Wehmut komme ich eben immer ins Erzählen.
Liebe Grüße
Eure Lotsi

Herbst-Depression

Franek, Saturday, 28.10.2000, 01:24 (vor 8795 Tagen) @ Lotsi

Ach Lotsi, wenn jemand so nett schreibt ist es eher erfreulich, wenn der Text mal etwas länger ausfällt.

Mit freundlichen Füßen grüßt Dich
Franek, 31, Rm. Dortmund

P.S.: Nach jedem Winter ist bis jetzt noch ein Frühling gekommen, also schnür' die Schuhe nicht so fest! ;-)

Berlin

Tatjana, Saturday, 28.10.2000, 16:26 (vor 8795 Tagen) @ Lotsi

Hi Lotsi

Was du zu Berlin sagst, kann ich nur teilweise bestätigen. Sicher rennt hier ein Haufen von Provinzlern rum, die einen auf "Szene" machen, aber Berlin ist nunmal eine tolle Stadt, gerade für Leute, die der Spießigkeit davonlaufen wollen. Hier ist eben vieles ungezwungener und man muß sich weniger Normen anpassen, denn dafür laufen hier einfach zu viele auffällige und "verrückte" Leute herum als daß viele davon noch groß Notiz davon nehmen täten.
Ich glaube schon, daß in Berlin durchschnittlich mehr Leute barfuß laufen als zum Beispiel in , was weiß ich, Bielefeld oder Rosenheim (da war ich schon). Daß die Leute glotzen kann schon sein, warum sollte das in Berlin anders sein. Barfüßer fallen einfach auf, auch wenn es mehr davon gibt.
Wenn du zB im Sommer auf dem Alex bist, dann kannst du eine Menge von Leuten sehen, die barfuß laufen, ebenso auf den vielen Stadtteilfesten, die schon einen eher alternativen Touch haben als zB das Bürgerfest einer Kleinstadt. Und weil Berlin einfach Leute anzieht, die sich nicht sio gerne anpassen, sind da wohl auch mehr Barfußfreaks dabei (auch wenn, wie schon diskutiert, die Unangepaßten dann alle gleich aussehen...)
Daß ich zB in der SBahn oft wegen fehlender Schuhe angequatscht werde, passiert mir auch hier. Das aber sind dann bestimmt Provinzler... (sorry, nicht gegen dich gerichtet. Nürnberg ist ja sicher auch nicht klein.)
Ciao
Tatjana

Berlin

Lupu, Saturday, 28.10.2000, 21:09 (vor 8795 Tagen) @ Tatjana

Hallo Tatjana,

ich weiß nicht, wo du deine Einschätzungen her nimmst... Meine Beobachtung ist, dass in der Provinz das Barfußlaufen keineswegs seltener ist als hier in Berlin, eher umgekehrt.
Den Beobachtungen von Lotsi kann ich mich nur voll und ganz anschließen, die "alternative, autonome, Antifa- oder was auch immer Szene" hat mit Barfußlaufen im allgemeinen nichts am Hut, eher mit den ziemlich ungesunden, dicken Tretern (kenne einige, die würden damit noch schlafen gehen). Nur zu ganz seltenen Anlässen, wie Stadtteil- oder Alternativen Festen sieht man dann mal gehäuft barfüßige Menschen (auf der Wiese oder im Hinterhof, nicht auf der Straße).
Also Barfußlaufen in Berlin, das ist eine einsamere Angelegenheit als an so manchen anderen Orten.

Fuß zum Gruß
Lupu

Herbst-Depression

XL ⌂ @, Monday, 30.10.2000, 11:30 (vor 8793 Tagen) @ Lotsi

Hi zusammen!

Der Bericht des pensionierten Lehrers zeigt es wieder einmal deutlich:
Auch Leute, die sich gerne als "alternativ" ansehen, haben ein erschreckendes Bedürfnis, sich in Uniformen stecken zu lassen.

Der Mensch ist eben doch ein Herdentier. Wenn das alpha-Männchen oder alpha-Weibchen (je nach Szene) barfuß geht, machen es die andren nach, trägt die Leitfigur Schuhe, tut es der Rest auch.

Soviel zu diesem Thema, was die herbst Depressionen angeht, kann ich berichten, daß ich gestern morgen noch mit einigen Kumpels, die sich für das Wochenende eingezeckt hatten, im Garten gefrühstückt habe, alle barfuß und alle haben sich wohlgefühlt...

[image] Schnaxel-Online

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