Literaturecke: Thoreau-Tagebuch 20.10.1857 (Hobby? Barfuß! 2)
Guten Abend zusammen,
für die literarisch
Interessierten hier ein kleiner Text für die Literaturecke -
alle anderen hoffe ich zumindest nicht zu langweilen.
Quelle: Henry David Thoreau
"Aus den Tagebüchern" (zusammengestellt und übersetzt von Susanne
Schaup), Tewes, 1996.
Tagebucheintrag 20.10.1957
Ich war erst ein kleines
Stück auf der alten Carlisle-Staße gegangen, als ich Brooks
Clark sah, der jetzt an die achtzig ist und krumm wie ein Bogen. Er eilte
die Straße entlang, barfuß wie gewöhnlich, mit einer Axt
in der Hand - vielleicht war er in Eile, weil ihn die Füße in
dem kalten Wind froren. Als er zu mir kam, sah ich, daß er außer
der Axt in der einen Hand, seine Schuhe in der anderen trug, mit knorrigen
Äpfeln und einem toten Rotkehlchen darin. Er blieb stehen, sprach
ein Weilchen mit mir und sagte, daß wir einen prachtvollen Herbst
hätten und uns jetzt auf kaltes Wetter gefaßt machen müßten.
Ich fragte ihn, ob er das Rotkehlchen tot gefunden habe. Nein, antwortete
er, er habe es mit gebrochenem Flügel gefunden und getötet. Er
fügte hinzu, daß er ein paar Äpfel im Wald gefunden habe,
und da er nichts besaß, worin er sie hätte heimtragen können,
steckte er sie in seine Schuhe. Die waren freilich ein seltsamer Früchtekorb.
Wie viele Äpfel er bis vorn in die Zehen hineinbrachte, weiß
ich nicht. Ich bemerkte auch, daß seine Taschen vollgestopft waren.
Sein alter zerschlissener Gehrock schlotterte wie seine Hose um seine nackten
Füße. Er schien an diesem stürmischen Nachmittag ausgerückt
zu sein, um wie ein kleiner Junge zu spähen, was er ergattern konnte.
Es freute mich, diesen fröhlichen Alten zu sehen, der nur noch mit
einem schwachen Fuß im Leben stand, krumm wie ein Schürhaken,
und dabei seinen Lebensabend genoß. Ich denke nicht daran, es Hagsucht
oder Geiz zu nennen, dieses kindliche Vergnügen, etwas in Wald oder
Feld aufzulesen und an einem Oktoberabend nach Hause zu bringen als Trophäe
oder als Beitrag zum Wintervorrat. O nein, er war glücklich, daß
die Natur ihn immer noch bewirtete und daß er seine Nahrung picken
durfte wie ein Vogel. Besser sein Rotkehlchen als euer Truthahn, besser
seine Schuhe voll Äpfel als eure Fässer. Sie werden süßer
schmecken und etwas Schöneres zu erzählen haben.( ... ) Er war
draußen gewesen gewesen, um nachzusehen, was die Natur ihm beschert,
und eilte nun heimwärts zu einem Unterschlußf, der ihm vertraut
war, wo er seine alten Füße wärmen konnte.
Wäre er ein junger
Mann gewesen, hätte er wahrscheinlich aus Scham seine Äpfel weggeworfen
und seine Schuhe angezogen, als er mich kommen sah. Aber das Alter ist
souveräner, es hat gelernt zu leben und entschuldigt sich nicht bei
jeder Gelegenheit. Es scheint mr ein sehr mannhafter Mann zu sein.
Anmerkung: Henry David
Thoreau, amerikanischer Philosoph, Landvermesser, Wanderer (1817-1862)